Der Untertitel des Bildungsesprächs lautet: „Bildung als Weg zu seiner reflektierten Alltagspraxis“. Dieser Titel und der Verlauf des Gesprächs lassen bei mir den Eindruck entstehen, dass es nicht ganz verkehrt zu sein scheint, sich die Frage zu stellen, wann man sich aktiv ins Geschehen begibt und wann man sich zurückzieht und sein Denken und Handeln reflektiert. Es ist also genau die Frage, die ich mir während der Herbstakademie immer wieder stelle. Wo will ich mitmachen und wo ziehe ich mich lieber zurück und versuche das Ganze mal zu reflektieren? Denn das ist für mich die nächste spannende Frage. Wie genau geht das denn? Das Reflektieren? Wie fühlt sich das an? Wie komme ich eventuell zu einem bewussteren (Er)Leben? Auch an dieser Stelle finde ich im Bildungsespräch erste Anhaltspunkte. Ein Gesprächsteilnehmer berichtet von seiner Alltagspraxis: Er versucht, meist am Abend, ein paar stille Minuten für sich zu finden und die Ereignisse des Tages noch mal Revue passieren zu lassen. Es soll ihm dabei helfen zu verstehen, was gut und was weniger gut gelaufen ist und was diese Geschehnisse mit ihm zu tun haben. Ein anderer Gesprächsteilnehmer berichtet, dass er immer mal wieder den eigenen Sprachgebrauch überprüft. Insbesondere die Adjektive, die er verwendet. Welche benutzt er häufiger und wieso haben gerade die sich eingeschliffen? Was hat das mit seiner Sicht auf die Welt zu tun? Eins ist klar: Einfach ist die Selbstbeobachtung nicht. Wenn ich dem ernsthaft nachgehen will, gibt es noch viel zu tun.
Erstmal tue ich allerdings etwas anderes. Der Nachmittag und auch die gemeinsame Aktion sind vorbei. Es ist Zeit für das Abendessen. Also gehe ich auf die Terrasse. Wir haben Glück mit dem Wetter und sitzen mit herrlichem Ausblick über Mosel und Weinberge an den weiß gedeckten Tischen. Ebenfalls Glück haben wir mit dem Essen. Das wird unter der Regie der Eltern eines Studenten zubereitet. Wir Akademieteilnehmer entscheiden selber wann und wie oft wir dabei helfen wollen.
Das (vegetarische) Essen und die Entscheidungen für meine persönlichen „Denkpausen“ statt der gemeinsamen Aktion führen mich dann zu einer Frage, die mich nicht mehr loslässt: Gibt es eine Möglichkeit für mehrere Individuen in einer Gruppe oder Gesellschaft zu leben, ohne so etwas wie Regeln zu haben? Regeln verstehe ich hier in einem sehr weiten Sinn. Darunter können ähnliche Ideen, ähnliche Ideale oder implizite „Verhaltensregeln“ gehören. Wieso ist da für mich ein Reibungspunkt? Ich glaube, dass jeder Mensch eine individuelle Persönlichkeit mit Wünschen, Bedürfnissen, Zielen etc. ist. Sobald es aber eine Gruppe oder Gesellschaft gibt, scheint es irgendwelche Regeln zu geben, die nicht mehr jedem Individuum mit seinen Bedürfnissen zu 100% gerecht werden (können). Noch vertrackter wird es, wenn zu den Regeln dieser Gruppe oder Gesellschaft gehört, dass jedes Individuum sich frei nach seinen Bedürfnissen und Wünschen entwickeln kann. Um es etwas konkreter zu machen: Mein Eindruck ist, dass sich die „westliche“ Gesellschaft auf die Fahnen schreibt, dass in ihr jeder das erreichen und machen kann was er will. Wie groß der implizite Rattenschwanz an Verhaltensregeln bei dieser Äußerung ist, vermag ich wahrscheinlich gar nicht zu überblicken. Eins springt mir allerdings ins Auge. Man kann alles machen was man will, vorausgesetzt man ist leistungsbereit. Wer in „unserer“ Gesellschaft nicht bereit ist zu arbeiten, der hat einen schweren Stand. Nach der Schule (und dem fast obligatorischen Auflandsaufenthalt) gibt es in der Regel zwei Möglichkeiten: Ausbildung oder Studium. Was ist nun aber mit den Individuen, die dieser impliziten Regel der Leistungsbereitschaft nicht entsprechen? Da scheint die Idee von der Gruppe, in der jeder Mensch seine individuellen Entwicklungsmöglichkeiten hat, an ihre Grenze zu kommen.
An diesem Punkt komme ich nun wieder zur Herbstakademie und der Cusanus Hochschule.
Mein Eindruck ist, dass sich dort viele Menschen zusammen finden, die viele der gesellschaftlichen Regeln hinterfragen. Es soll ein Ort werden an dem es um die Bildung der einzelnen individuellen Menschen geht. Kein Schleifen von leistungswilligen Rädchen, die dann im Arbeitsmarkt eingesetzt werden können. In diesem Licht sehe ich auch die Herbstakademie. Eine offene und vielfältige Tagung, die für jedes Individuum offen steht. Mein ganz persönlicher Irritationspunkt ist ein Satz in der Einladung zur Herbstakademie (Auch im Bildungsgespräch kommt das Auftreten von Irritationspunkten als Bestandteil von reflektiertem Handeln zur Sprache). „Die Mahlzeiten werden vegetarisch, auf Wunsch auch vegan angeboten werden“. Ich frage mich was mit den Menschen ist, die Fleisch essen möchten. Dieser Gedanke löst eine kleine Denkkaskade aus, die zu den oben geschilderten Überlegungen bzgl. der Regeln einer Gruppe führen und mir persönlich eine sehr eindrückliche Erfahrung ermöglichen. Denn ich fühle mich stark zu den Menschen auf der Herbstakademie hingezogen. Ich finde dort Ideen und Vorstellungen, die denen von mir sehr ähnlich sind. Die Herbstakademie und die Cusanus Hochschule scheinen eine echte Alternative zu dem zu sein, das mich abstößt. Dazu zählen zu große Universitäten, die zu Ausbildungsorten verkommen, unauthentische Unternehmen oder mir unverständliche und befremdliche Politik und Parteien. Solchen Unternehmungen oder Gruppen habe ich in meiner Kritik häufig vorgeworfen, gar nicht das zu sein, was sie vorgeben. Zum Beispiel offen und frei für jedes Individuum. Ich brachte meine Kritik in dem plakativen Satz zum Ausdruck: „Du kannst hier alles machen was du willst so lange du dich an unsere Freiheit hälst“ oder „Das geht so nicht, das ist nicht die Freiheit die wir (die Gesellschaft, die Gruppenmitglieder) meinen“. Aber genau dieses, mein Kritikziel, finde ich in dem Satz der Einladung. „Innerhalb der von uns gesetzten vegetarischen Rahmenbedingungen hast du die Wahlmöglichkeit“. In der Gruppe, die ich interessant finde, gibt es also genau das, was ich an den anderen kritisiere. Nun stehe ich da. Kaum bewegt sich das Geschehen in eine Richtung, die mir zusagt, erhebt das Ideal den Finger und sagt: „Moment mal Freundchen, da stimmt etwas nicht“. Mein Ideal, dass es eine Gruppe oder Lebensgemeinschaft geben könnte, die jedem Individuum gerecht wird, steht auf der Kippe.
Im Rahmen der Herbstakademie finde ich keine Lösung mehr für dieses kippende Problem. Das macht nichts. Fragen animieren zur (geistigen) Bewegung. So entlässt mich die Herbstakademie mit mindestens einer konkretisierten Frage und ich finde: sowohl für die Herbstakademie als auch für mich war es eine gelungene doppelte (Tagungs) Premiere.
“Epilog”:
Beim Schreiben dieses Textes fällt mir ein, dass ich mal bei Rudolf Steiner etwas gelesen habe, das mir nicht sehr plausibel erschien. Er schreibt in der Philosophie der Freiheit, dass das Handeln des Menschen auf der höchsten Stufe der Sittlichkeit weder von einer vorher bestimmten charakterologischen (inneren) Anlage noch von äußeren normativen Prinzipien bestimmt wird. Eine Handlung soll dann aus der moralischen Intuition heraus erfolgen (S. 158f). Im Lichte des von mir als problematisch empfundenen Spannungsfeldes zwischen Gruppe und Individuum erscheint mir dieser Gedanke nun doch nicht mehr so unplausibel. Vielleicht erübrigen sich Regeln wenn wir fähig sind, aus einer wie auch immer gearteten Intuition heraus zu handeln und miteinander zu leben.
von Leon Pelzer